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Der Podcast von Tim Guldimann nimmt aus Politik und Gesellschaft relevante Fragen auf, die über die Tagesaktualität hinausgehen. Die prominenten Gesprächspartner – jeweils eine Frau und ein Mann – sind selbst im Themenbereich aktiv tätig. Monatlich werden laufend zwei neue Debatten aufgenommen. Tim Guldimann leitete Friedensmissionen im Kaukasus und Balkan, war Schweizerischer Botschafter in Teheran und Berlin und war danach bis 2018 Schweizerischer Parlamentsabgeordneter.

Tim Guldimann - Debatte zu Dritt Tim Guldimann

    • Arts

Der Podcast von Tim Guldimann nimmt aus Politik und Gesellschaft relevante Fragen auf, die über die Tagesaktualität hinausgehen. Die prominenten Gesprächspartner – jeweils eine Frau und ein Mann – sind selbst im Themenbereich aktiv tätig. Monatlich werden laufend zwei neue Debatten aufgenommen. Tim Guldimann leitete Friedensmissionen im Kaukasus und Balkan, war Schweizerischer Botschafter in Teheran und Berlin und war danach bis 2018 Schweizerischer Parlamentsabgeordneter.

    Bekämpft die Migrationspolitik die Überfremdung oder kann sie Migranten zu Mitbürgern und Mitbürgerinnen machen? – mit Christine Schraner-Burgener und Samir Jamaladdin

    Bekämpft die Migrationspolitik die Überfremdung oder kann sie Migranten zu Mitbürgern und Mitbürgerinnen machen? – mit Christine Schraner-Burgener und Samir Jamaladdin

    „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“ (Max Frisch) und als die Schweiz in der Krise der 70er Jahre diese Arbeitskräfte nicht mehr brauchte, schickte sie über 300‘000 von ihnen wieder zurück.

    Der Filmemacher Samir Jamaladdin, der 24 Jahre auf seine Einbürgerung hat warten müssen, „wurde durch die Umstände radikalisiert: Ich hasste dieses Land so sehr, dass ich am Schluss gar keine Lust mehr hatte, Schweizer zu werden.“ Später wurde er aber durch einen „Verwaltungsakt glücklicherweise Schweizer und heute bin ich tatsächlich glücklicher Schweizer“. – Die für die schweizerische Migrationspolitik zuständige Staatssekretärin Christine Schraner-Burgener, die ihre Kindheit in Tokio verbrachte, hat „als Ausländerin in einem fremden Land selbst die Erfahrung gemacht, wie man sich fühlt (..) und ich bin dann mit 10 Jahren in die Schweiz gekommen und habe mich fremd gefühlt“.

    Entscheidet die Migrationspolitik über die Zukunft des Rechtsstaates, wenn Rechtspopulisten die Zuwanderung zu ihrem zentralen Anliegen machen? – Gemäss Samir gehe der Rechtsstaat schon längst „in eine Richtung (..), das grundlegende Menschenrecht zu beschädigen.“ Das sei „eine langfristige Geschichte, die schon seit 70 Jahren andauert. (..) Die Leute, die wir eingebürgert haben, können wir auch wieder ausbürgern. Das widerspricht grundsätzlich der Idee, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben. (..) Seit den 60er Jahren bis jetzt“ gehe das „eher in eine Richtung der Verschärfung. (..) In der Realität sind die Gesetze, die wir jetzt haben, schärfer als damals, als ich eingebürgert worden bin. (..) Diese Idee, eine Arbeitskraft ist eine Arbeitskraft und eben kein Mensch, die ist eigentlich schon tief, tief drinnen in der DNA der Administration, der Gesetzgebung.” 

    Christine Schraner sieht hingegen im politischen Umgang mit der Zuwanderung und insbesondere mit der Flüchtlingsfrage „eine enorme Verbesserung. (..) Mit der Integration haben wir enorme Fortschritte gemacht. Seit 2014 haben wir Integrationsprogramme.” Sie weist darauf hin, dass die schweizerische Flüchtlingspolitik besser funktioniere als in Deutschland, weil die Asylentscheide „viel rascher“ erfolgen. “Da haben wir mit acht Ländern eine Migrationspartnerschaft (..) und 65 Rückübernahmeabkommen, das heisst, es funktioniert wirklich sehr gut. (..) Wir haben eine sehr hohe Schutzquote von etwa 60%. Das heisst es kommen eher die, die wirklich Schutz bekommen.“ Bezüglich der abgelehnten AsylantragstellerInnen „konnten wir vorletztes Jahr 57% zurückführen“, das sei „ungefähr dreimal mehr als der europäische Durschnitt. (..) Ohne Ukrainekrieg hätten wir auch die Migrationsbewegungen besser meistern können. (Mit der) Kombination von 75‘000 UkrainerInnen, die in einem Jahr kamen, plus noch 25‘000 Asylgesuchstellende, musste ich Platz finden für 100‘000 Personen. Im Jahr zuvor hatten wir 14‘000 Asylgesuche.“

    Samir widerspricht mit den Erfahrungen aus seinem Bekanntenkreis: “In der Realität sieht das für mich ganz anders aus. In der Realität kenne ich Leute aus Afghanistan, die auch nach Jahrzehnten immer noch nicht wissen, hin und zurück?”, ohne offiziell arbeiten zu dürfen. Er führt das Gespräch zurück auf die zentrale Frage des gesellschaftlichen Selbstverständnisses. Seit Jahrzehnten sei „der Begriff ‘Überfremdung’ immer wiederholt und immer wieder verwendet“ worden. „Kanada, die USA, Neuseeland und Australien hätten sich schon immer „als Einwanderungsgesellschaften“ gesehen, das sei „der entscheidende Unterschied zwischen uns und diesen Staaten. (..) Die offizielle Schweiz muss die Terminologie ändern. Erst wenn wir es geschafft haben, dass wir sagen, ja wir sind eine Migrationsgesellschaft und das ist gut so. So wie das Wowereit”, der homosexuelle Bürgermeister von Berlin bei seinem coming-out “gesagt hat: Und das ist gut so.”. Dem stimmt Christin

    • 47 min
    „Hat das Buch Zukunft ?“ - mit Jonathan Beck und Laura de Weck

    „Hat das Buch Zukunft ?“ - mit Jonathan Beck und Laura de Weck

    Wie hat das Buch die Pandemie überstanden? Dazu der Verleger Jonathan Beck: „Da waren die Ängste erstmals gross, (..) aber am Ende haben wir vielleicht nicht unsere Systemrelevanz, (..) aber unsere Resilienz bewiesen.“ – Die Schriftstellerin und TV-Literatur-Moderatorin Laura de Weck ergänzt: „Die Leute lesen mehr, die Buchhandlungen (..), die kamen mit ach und krach durch“, aber für sie waren danach „die Auswirkungen viel stärker (..) Die Leute (..) gehen nicht mehr in die Buchhandlungen rein, oder dass sie sich gewöhnt haben, online einzukaufen (..) Aber gleichzeitig ist während Corona etwas entstanden, nämlich die Buch-Communities auf den Sozialen Medien (..), riesige Communities. (..) Man möchte den Austausch mit Menschen, und über Bücher ist das eben möglich.“ De Weck zitiert dazu den Schweizer Autor Peter Bichsel: „Wenn er zwei Menschen sehe, die sich küssen, dann denke er immer, ach, die haben bestimmt das gleiche Buch gelesen.“ Durch die Book-Tok-Bewegung, so de Weck weiter „haben das so viele Stars auch aufgenommen. (..) Da sind Millionen Verkäufe, die über diese neuen Communities laufen. (..) 2022 wurden so viele gedruckte Bücher verkauft, wie noch nie an die Generation Z“. 

    Was bewirkt die Zeitenwende, verstärken Krieg und Krisen den Bedarf an Orientierung?  Dazu Beck: „Schreckliche Dinge passieren auf der Welt, aber wir als Verlag haben noch profitiert, weil wir dann sehr oft Bücher dazu im Programm hatten (..) In dieser Hinsicht waren wir als Verlag öfters ein Krisen- und Kriegsgewinnler“. 

    De Weck erzählt, wie sehr sie von der ukrainischen Schriftstellerin Tanja Maljartschuk beeindruckt war, die nach Beginn des Ukrainekriegs in Klagenfurt sagte, „dass sie eigentlich ihr Vertrauen in die Literatur, in die Sprache verloren hat, (..) weil sie gedacht hatte je mehr Bücher es gibt, je mehr die Menschen lesen, desto humanistischer wird eine Gesellschaft (..) Sie erwähnte aber auch, dass die Literatur Rettung sein kann für einzelne (..) und erzählte, dass in der Ukraine so viele Bücher, gelesen, geschrieben und gedruckt werden wie noch nie“. 

    Schreiben Frauen für Frauen und Männer über die Welt oder ist die Literatur generell weiblicher geworden? – De Weck: „Sie ist definitiv weiblicher geworden, (..) weil es viele Frauen in der Literaturbranche gibt“. Das sei aber so, „weil die Branche so schlecht bezahlt.“ Aber man sehe “in allen Verlagsprogrammen, dass es deutlich mehr Autorinnen gibt, und dass (..) Frauen eben nicht (nur) für Frauen schreiben.“

    Ist die Literatur von ausserhalb des Westens wichtiger geworden? De Weck: „Es ist ja Realität, dass Menschen im globalen Süden immer geschrieben haben und schreiben werden. Die Frage ist, ob man sich dafür interessiert (..) Das sind einfach komplett neue Geschichten, die uns erzählt werden. (..) weil wir alle ein bisschen satt geworden sind von den immer gleichen Erzählungen. (..) Die Geschichte eines Mannes in der Midlife-Crisis, der seine Frau betrügt, ich kann sowas nicht mehr lesen. (..) Wir haben einfach einen Hunger nach neuen Erzählungen (..) Mbougar Sarr, wie er da nach Frankreich aus dem Senegal gekommen ist. Das sind völlig verrückte für mich neue Erzählungen“.

    Lösen die Sozialen Medien die etablierte Literaturkritik, die früheren Literaturpäpste ab? Jonathan Beck: „Es gibt nicht mehr die Personen, die dann die ganze Republik zusammenbringen und sagen, das solltet ihr euch anschauen (..) Dass einzelne Romane“ in der Saison zu Büchern wurden, „worüber alle gesprochen haben, das ist weg“. -  Den Einfluss der Sozialen Medien sieht Laura de Weck „definitiv als Demokratisierung, wie man über Bücher spricht. (..) Viele Feuilletonisten sagten (..) das ist objektiv schlechte oder gute Literatur aus vermeintlichen Kriterien, die für alle Texte gelten (..) Das ist eben auf den Sozialen Medien genau umgekehrt“, die Leute wollen „explizit eine subjektive Me

    • 43 min
    „Führt ein Wahlsieg von Donald Trump zur nächsten Zeitenwende?“ mit Emily Haber und Josef Braml

    „Führt ein Wahlsieg von Donald Trump zur nächsten Zeitenwende?“ mit Emily Haber und Josef Braml

    Die frühere deutsche Botschafterin in den USA Emily Haber sagt über Trump: „Ich habe einen Präsidenten und eine Administration erlebt, die sehr stark bilateral dachten, (.. und) Unzusammenhängendes miteinander in Verbindung brachten (..), um Macht zu hebeln. (..) Zugang war nicht das Problem, aber die Halbwertzeit von Zusagen war ein Problem“. Trump habe „sich sehr oft davon leiten (lassen..), wie sich ein Land oder dessen Regierung zu ihm persönlich verhielt“. 

    Der USA-Spezialist und Buchautor Josef Braml sieht in Trump „nur ein Indiz der sehr viel tiefer liegenden Probleme (..) Die amerikanische Demokratie war vorher schon defekt, sonst hätte einer wie Trump gar nicht erst Präsident werden können. (..) Wir machen uns noch kein Bild, wie seine zweite Amtszeit aussehen würde. Dann sitzen nämlich die Erwachsenen nicht mehr im Raum (..) Er hat nämlich schon dafür vorgesorgt, dass das nächste Mal, nur noch Leute um ihn rum sind, die nicht meinen, dass sie einen Eid auf die Verfassung geschworen haben, sondern seinen Ring geküsst haben, (..) die ihm treu und loyal ergeben sind.“

    Überlebt  der Rechtsstaat unter Trump? – Braml: „Trump hat drei Richter nominiert (..) die dem Präsidenten mehr Entscheidungsfreiheit auch gegenüber dem Kongress geben würden (.. und) ihm durchaus auch die Möglichkeit gäben, alle möglichen Leute zu feuern, sogar die Joint Chiefs of Staff, die höchsten Militärs, die uns damals wirklich von Schlimmerem behütet haben. (..)  Checks and Balances haben während Trump überhaupt nicht funktioniert (..) Es war dann noch der Supreme Court, der uns vor dem einen oder andern bewahrt hat. Aber nachdem er ihn selbst verändert hat, (..) wäre es dann doch fraglich, ob diese Kontrollinstanz noch so scharf greift wie bisher.“

    Zu Bidens Chinapolitik meint Haber: „Da sagen Sie, das sei die Fortsetzung und Verschärfung der Trumpschen Weges, (..) die stetige Ausdehnung besonders im Technologiebereich und der Exportkontrollen und der Investitionskontrollen, ja, das ist alles verschärft worden. Es ist auch richtig, dass in der Biden-Administration Sicherheitsüberlegungen immer weiter definiert werden. Aber trotzdem dürfen Sie nicht übersehen, dass anders als in der Zeit von Trump, diese Administration das Verhältnis zu China gegenwärtig sehr gut und sehr leise managet.“ 

    Da widerspricht Braml, „dass das vielleicht nicht hochkochen könnte bei Trump, aber bei Biden. (.. Dieser) hat nämlich viermal gesagt, dass er Taiwan verteidigen würde, was absolut brandgefährlich ist“. -  Haber sieht darin Bidens Strategie der Ambiguität. „Bei Trump würden wir eine bizarre Kombination aus Rückzug und Eskalation sehen, das ist auch gefährlich. So wie Biden jetzt agiert, ist das Verhältnis berechenbarer (..), als unter einem etwaigen Präsident Trump“. - Braml hingegen sieht die Gefahr, „dass wir da in eine militärische Konfrontation mit China hineinschlittern. (..). Und man hat jetzt einen Kalten Krieg vom Zaun gebrochen, (.. der) vor allem zuungunsten unserer Wirtschaft ausfallen kann“. - Dem hält Haber entgegen: „Trump wird versuchen, in der China Politik Europa zu fragmentieren, einzelne europäische Nationen herauszugreifen, um die Spaltung voranzutreiben, und maximalistische Positionen mit einer Gruppe von europäischen Staaten durchzusetzen“

    „Anders als Herr Braml sehe ich einen substantiellen Unterschied darin, ob wir es mit einem Präsidenten zu tun haben, der multilateral agiert, Interessensausgleich versteht, auf Verbündete Rücksicht nimmt und ganz anders konsultiert als ein Präsident Trump“ – Dem hält Braml entgegen: „Ich sehe, dass Biden uns da mächtig an die Kandare nimmt. Was mich umtreibt, und nicht erst seit Trump wiederkommt: Ich habe immer noch die Hoffnung, dass das eine oder andere umgesetzt werden kann, um Europa souveräner in dieser neuen Weltordnung aufzustellen (..) Wir müssen jetzt, wie man in Hamburg so schön s

    • 47 min
    „Die erschütterte Republik – Verliert Deutschland seinen gesellschaftlichen Zusammenhalt?“ - mit Joachim Gauck und Juli Zeh

    „Die erschütterte Republik – Verliert Deutschland seinen gesellschaftlichen Zusammenhalt?“ - mit Joachim Gauck und Juli Zeh

    Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck stellt klar, dass er „den apokalyptischen Grundton“ meines provokativen „Eingangsstatements so nicht teile. Wenn ich das höre, denke ich, was will ich, Selbstmord oder einen Führer. (..) Wenn man die Angst, wie es in Deutschland einige tun, zu einer Nationalkultur erhebt, dann ist Zukunft weit weg. (..) Ich musste über 70 werden, als ich zum ersten Mal mit Blick auf das Land das Wort Stolz in den Mund genommen habe, nicht Stolz, wie die Rechten sagen (..), sondern ich bin stolz auf DIESES so gewordene Deutschland, das sich aus diesem tiefsten Fall heraus zu einer beeindruckenden Form von Rechtsstaatlichkeit, von Rechtstreue der Bevölkerung, von Schaffung von Wohlstand… und von der Friedenspolitik, dass wir überall Freunde haben um uns herum, vom Abschied von preußischer Arroganz.“ - Ein stolzer Verfassungspatriot also? - „Ja und wir brauchen zu diesem Verfassungspatriotismus, der für intellektuelle Menschen ganz wesentlich ist, einen Raum. Tucholsky hat Heimat einmal so benannt: Es gibt Situationen, da sagst du DU zu dem Ort, wo du bist“.

    Die Schriftstellerin Juli Zeh ergänzt: „Es sind nicht nur die Bäume und die Meere und die Felder, die dieses Gefühl, Du sagen zu können zu seinem Land, befördern, sondern es muss so eine Art stumme, ungeschriebene Vereinbarung noch dazu kommen, die eben nicht in der Verfassung niedergelegt ist (..) so in einer Art vorpolitischem Raum. Es gibt diesen tollen und ganz gruseligen Satz vom Verfassungsrichter Böckenförde: ‘Die Demokratie beruht auf Voraussetzungen, die sie selber nicht schaffen kann‘.( ..) Es ist so etwas wie eine stumme Einverständniserklärung, dass wir als Bürger dieses Landes ein sich selbst verwaltendes Kollektiv sind, das irgendwie zusammengehört. Und das ist so etwas wie der Punkt, an dem wir zurzeit spüren, (..) dass so eine Art Erosion einsetzt, dass viele Leute anfangen, sich un-beheimatet zu fühlen. Was darauf aber auf keinen Fall die Antwort sein kann, sind konkurrierende Apokalypseerzählungen (.. als) Versuch, sehr komplexe Dinge einfach zu machen. (..)  Wenn ich eine Apokalypse habe, dann ist die Analyse fertig und dann ist auch die Frage, was muss sich denn tun, schon beantwortet: die Antwort ist dann: alles und um jeden Preis.“

    Nach Gauck gehe es „um „Menschen, die Angst haben, nicht mehr beheimatet zu sein dort, wo sie leben. Dann entstehen Suchbewegungen (..) und dann geht es nach rechts außen und dort werden dann diese Ängste bewirtschaftet“. In „einer sich fortentwickelnden Moderne ist es eine Unbehaustheit dessen, der behaust sein will, der Verlust des Vertrauten. (..) Man hat zu wenig gearbeitet am ideellen Wert der Dinge und sich stark darauf verlassen, dass dieses Wachstumsversprechen genug Bindungswirkung und Strahlkraft hat.“

    Gauck zitiert Wilhelm Busch: „‚Nur was wir glauben, wissen wir gewiss‘. (..) Das so zu erzählen, dass es eine persönliche wie politische Beheimatung bietet, das ist die Aufgabe derer, die die Zeiten zu deuten haben. - Dazu Zeh: „Was halt nicht gut ist, wenn man versucht, (..) diesen Glauben an genau dieses Wertefundament in gewisser Weise zu erzwingen oder zumindest zu befördern, indem man ihm eine Feinderzählung gegenübersetzt“. Es brauche „eine positive Erzählung, um den Menschen wieder klarzumachen: Kuck doch, wir sind doch eine Rechtsgemeinschaft und es gibt Bedrohungen, wir müssen uns zusammenschließen, wir müssen das verteidigen“. 

    Schließlich gehe es, so Juli Zeh weiter, darum, „uns zu erlauben, einfach mal zu sehen, was gut ist, die Zeitfenster grösser fassen, die humanistische Fortschrittserzählung, nicht die ökonomische, die sich nicht über 20, sondern über 200 oder 300 Jahre erstreckt: Es ist tatsächlich so, so Vieles besser geworden und es steht nirgendwo geschrieben, dass das jetzt an einen Endpunkt gelangt ist. Es ist ein narzisstischer Reflex zu sagen, wir sind aber die letzten, es k

    • 53 min
    Was bedeutet es überhaupt noch, links zu sein? – mit Anna Lehmann und Frank A. Meyer

    Was bedeutet es überhaupt noch, links zu sein? – mit Anna Lehmann und Frank A. Meyer

    Der Arbeitersohn Frank A. Meyer, Mitglied der Konzernleitung des Medienunternehmens Ringier, behauptet von sich selbst manchmal: „Ich bin der letzte Linke. (..) aber „was das Liberale betrifft: ich war Unternehmer und Sozialdemokrat“. Er hatte eine eigene sozial-liberale Partei gegründet, „die beides umfasst und das Liberale gehört bei mir auch dazu, das ist mein Reflex gegen das autoritäre Linke.“ – Dagegen wendet die TAZ-Journalistin Anna Lehmann ein, die sich selbst als Linke bezeichnet: „Das Liberale gehört auch zum Linkssein dazu. Es war ja der Fehler der Stalinisten (..), dass man das Liberale nicht mitdachte, dass man Freiheit oder Sozialismus sagte“.  
     Warum ist die Politik außerstande, die sozialen Anliegen der Mehrheit der Bevölkerung zu lösen, Mieten, Inflation, gekürzte Staatsleistungen? Lehmann kritisiert: „Die Regierung kriegt das nicht in den Griff“. Meyer sieht das Problem in der „ganz, ganz wesentlichen Entfremdung der ganz normalen Arbeitnehmer von den linken Gruppierungen, Parteien, Erweckungsbewegungen, damit rede ich von den Grünen, das ist religiös besetzt. (..) Es gibt eine akademische Schicht, die sich die Linke gekrallt hat.“ 

    Dagegen Lehmann: „Ihre These ist, die Linke hat sich soweit von den Arbeitern entfernt, dass sie deren Anliegen gar nicht mehr vertritt. Ich würde sagen, es ist anders: Die Linke ist eigentlich nicht links genug. Zum Linkssein gehört für mich immer Kapitalismus-kritik. Wenn es darum geht, den Sozialstaat zu gestalten, dann geht es immer auch um Umverteilung und gerade das schafft die heutige Linke nicht. Sie schafft es nicht, Besitzstände anzutasten und das ist ihr Problem." 

    Es gebe zwar nicht mehr die Arbeiterklasse, so Lehmann weiter, „aber es gibt immer noch Ausbeutung (..) es gibt Leute die in Abhängigkeit leben und einen Job haben, der meist schlecht bezahlt ist (..), das würde man heute als prekarisierte Klasse nennen..“. Meyer fällt ihr ins Wort: „prekarisierte Klasse ? (..) Die ganze Sprache hat sich entfremdet, hat nichts mehr mit diesen Leuten zu tun.(..) Ich will gar keinen Diskurs, ich will Streit.“ 

    Es sei an der Zeit, „in die Berufsbildung zu investieren. Von den 170 Genderlehrstühlen, mal 120 abschaffen und das Geld umschichten zu den Berufsschulen (..), das wäre linke Politik“. – Dagegen Lehmann: “das wäre keine linke Politik, das was Sie beschreiben wäre, zwei Anliegen gegeneinander auszuspielen Gendern gegen gute Bezahlung und eine Umverteilung (..) man muss beides machen“. 

    Meyer: "Sie haben das Wort ‘alleingelassen‘ gebraucht, das ist für mich ein typischer Begriff der deutschen Politik: ‘Wir lassen die Bürgerinnen und Bürger nicht allein‘, das ist das Problem!"  - Lehmann räumt ein: „Ich gehe mit ihnen einig, dass der Staat nicht paternalistisch sein darf und dass das zum Teil in der SPD und in anderen Parteien so drinsteckt."  – Meyer: „Die rechtspopulistischen Bewegungen bewirtschaften genau das, was ich ständig beklage, sie bewirtschaften die (..) politische Heimatlosigkeit der Menschen mit den Versprechen ‚Wir sind das Volk‘, mit voller Emotionalität und Erfolg, der alles, was wir erkämpft haben an Demokratie und an funktionierendem Sozialstaat zutiefst gefährdet.“

    Was ist die Lösung? - Lehmann: „Es geht im Kern darum, dass man den Leuten das Gefühl geben muss, sie sind nicht auf den Sozialstaat angewiesen, sondern sie können von ihrer Hände Arbeit leben. Alles was getan wird, das Wohngeld zu erweitern oder den Kinderzuschlag zu erhören ist ja quasi ein Eingeständnis des Scheiterns. Die Leute verdienen eben nicht genug, damit sie ohne die Hilfe des Staates über die Runden kommen. (..) Die Politik darf die Menschen nicht so behandeln wie die Empfänger von Almosen“. 

    • 54 min
    „Eine globale Unordnung löst die westlich dominierte Weltordnung ab. Haben Friedenspolitik, Entwicklungshilfe und das humanitäre Völkerrecht überhaupt noch eine Chance?“ – mit Peter Maurer und Carolina Frischkopf

    „Eine globale Unordnung löst die westlich dominierte Weltordnung ab. Haben Friedenspolitik, Entwicklungshilfe und das humanitäre Völkerrecht überhaupt noch eine Chance?“ – mit Peter Maurer und Carolina Frischkopf

    Der frühere Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Peter Maurer widerspricht meiner Behauptung, wir seien „in einer Welt aufgewachsen, da war sie noch in Ordnung (..) Die sogenannte internationale Ordnung, (..) hat einfach so nicht gespielt für ganz viele Leute, aber das wurde nicht zur Kenntnis genommen.“ Carolina Frischkopf, die designierte Direktorin des Hilfswerks der evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS) stimmt zu: „Es ist eine Welt in Unordnung, die immer in Unordnung war. (..) Bis jetzt hatten wir eine klare Ordnung, wer Macht hat, die Pax Americana. (…Die Amerikaner) haben die Weltordnung so nutzen können, wie es für sie gestimmt hat.(..) Wir hatten eine von Amerika dominierte Weltordnung, dort gelang es nicht, die wirtschaftliche Entwicklung für alle zugänglich zu machen. China hat das für China geschafft.“

    „Was sich geändert hat", gemäss Maurer,  "ist  der Konsens, darüber, wer sich mit dieser Unordnung beschäftigen soll und kann. Die Leadership-Funktion der westlichen Welt ist  in Frage gestellt. (..) Was nicht in Frage gestellt wird, sind die Zielvorstellungen, die sich Gesellschaften machen bezüglich Frieden, Respekt von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht. (..) Was abgelehnt wird, ist eine machtpolitische abgestützte Interpretation dieser Normen, aber nicht die Normen selbst. Und das ist ein grosser Unterschied. (..) Wir haben keine Akzeptanz der machtpolitischen Ordnung. Daher müssen Normen wieder neu verhandelt werden.“

    Für Maurer gibt es ein Entwickungsparadox: „Es hat noch nie in der Geschichte der Menschheit so viele Leute gegeben, die gesund, wohlhabend, miteinander verbunden und ausgebildet waren. Und gleichzeitig hat es noch nie auf der Welt so viele Menschen gegeben, die ausgeschlossen sind von politischen Entscheidungsprozessen, die in Armut verharren, die die negativen Auswirkungen der Globalisierung auf sich vereinigen. Und beides stimmt. Und das ist eigentlich die Problematik, mit der sich das internationale System heute beschäftigen muss, (..) das von den fragilen Kontexten durcheinander gerüttelt wird (..): Klimawandel, strukturelle Armut, Korruption, Auswirkungen von Pandemien (..) So haben wir Orte auf der Welt, die praktisch nicht mehr regierbar sind und die ausserhalb des internationalen Systems sind. Das internationale System erlebt eine Delegitimierung, weil sich heute diese Leute auch melden, weil sie verbunden sind mit der Welt und sagen: Euer Diskurs stimmt nicht.“

    "Es braucht einen fundamental anderen Ansatz, wie wir ein Hilfesystem aufbauen, das auch den lokalen Begebenheiten Rechnung tragt“, ", so Maurer weiter. "Dafür brauche es aber  „mehr als Augenhöhe“, argumentiert Frischkopf, „der Lead für die Entwicklung muss bei den Ländern selber sein und bei den Partnern, weil sie am besten wissen, was sie brauchen und was bei ihnen funktioniert oder nicht. Und das ist im Gegensatz zu dem, was bei uns Geldgeber oder auch Staaten an Entwicklungspolitik machen wollen.“ Das bestätigt Maurer: „Ich habe stark gespürt in den 10 Jahren, wo ich IKRK-Präsident war, wie die Legitimität westlicher Helferei fundamental in Frage gestellt wurde,(..) weil man gesehen hat, dass dies die falsche Hilfe ist, die nicht den Bedürfnissen entspricht.“

    Ist es legitim, in der globalen Unordnung mit Gaunern und Schurken als Partner zu verhandeln? „Das war immer so, das hat sich nicht geändert“, antwortet Frischkopf, „man hat mit Saddam Hussein und Gaddafi gut verhandelt, das hat realpolitisch immer funktioniert“. Und Maurer ergänzt aus seinen Erfahrungen mit autoritären Regimen: „Wir haben die unangenehme Gewohnheit, sie als Diktaturen und als korrupte Regierungen (zu bezeichnen), wie wenn es Korruption bei uns nicht gäbe, wie wenn es autoritäre Bestrebungen bei uns nicht gäbe. " Dazu Frischkopf: „Ich habe das in China erlebt und das hat mich sehr beeindruckt (..) Wenn man mit Chinesen zusammensitzt, si

    • 48 min

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