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Unser Weg durch das Recht der Gesellschaft von Niklas Luhmann zum mithören, mitlesen und mitdenken.

Luhmaniac liest und interpretiert Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft J. Feltkamp, U.Sumfleth

    • Bildung
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Unser Weg durch das Recht der Gesellschaft von Niklas Luhmann zum mithören, mitlesen und mitdenken.

    79. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 343, K08

    79. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 343, K08

    Juristische Argumentationstheorie setzt auf Begründungen. Doch was ist ein Grund? Luhmann kritisiert, dass der Begriff allein nichts besagt. Eine Begründung ergibt erst Sinn, wenn sie auf ausgewählte Unterscheidungen verweist. Die Kontingenz dieser Auswahl macht die Theorie sich nicht ausreichend bewusst.
    Was ist ein Grund? Den Grund an sich gibt es nicht. Das sieht man schon daran, dass es keinen Gegenbegriff gibt, keinen „Ungrund“ oder „Nichtgrund“. Der Begriff ist keine Zweiseitenform. Wer begründet, muss deshalb auf begriffliche Unterscheidungen verweisen, die selektiert werden. Wie bei jeder Auswahl, könnten auch andere Unterscheidungen ausgewählt werden. Damit sind Begründungen kontingent. Man kann immer weiter fragen, womit die Begründung begründet wird. Eine Letztbegründung gibt es nicht. Auch die „Vernunft“ hilft nicht weiter, sie begründet sich selbst mit sich selbst, ist also autologisch.
    Begründungen sind also eine Paradoxie. Sie begründen sich mit Gründen, die sich nicht endgültig begründen lassen. Um diese Paradoxie im Alltag zu managen (das heißt: zu invisibilisieren!), behilft sich die juristische Argumentation mit einer Ersatzunterscheidung: Man unterscheidet gute und schlechte Begründungen. Diese Ersatzunterscheidung ist sowohl praktisch wie auch theoretisch handhabbar. Man stellt Kriterien auf, was eine gute/schlechte Begründung ausmacht. Diese Kriterien sind jedoch ebenfalls kontingent. Zwangsläufig sind sie das Ergebnis einer weiteren Selektion, die anders hätte ausfallen können. Man kann die Auswahl nur wieder gut oder schlecht begründen. Der Kontingenz aber entkommt man nicht.

    Die Erkenntnis, dass Begründungen kontingent sind, weil sie auf ausgewählte Unterscheidungen zurückgehen, gehört für Luhmann zu den Errungenschaften des „modernen“ Denkens. Im Gegensatz dazu war die Vormoderne davon ausgegangen, es gäbe „objektive“ Wahrheiten, die ein „Subjekt“ nur erkennen müsse.

    Zum neuzeitlichen Denken gehört es auch, das Recht als operativ geschlossenes, autonomes Funktionssystem zu sehen, das Autopoiesis betreibt. Das heißt, das Rechtssystem produziert alle Rechtskommunikationen selbst. Dies geschieht, indem es permanent auf sich selbst verweist – auf andere Rechtskommunikationen des Systems.

    Diese Selbstreferenzialität des Rechtssystems wurde in der Theorie der begründenden Argumentation kaum berücksichtigt. Anstatt sich auf konkrete Argumentationsweisen in der Praxis zu beziehen, verlegte sie sich auf Verfahrensprinzipien. Diese werden auch unter dem Begriff Prozeduralisierung diskutiert. (Siehe Anmerkung am Textende.)

    Luhmann kritisiert, dass diese Theorien jedoch vor allem eigene Argumentationsweisen für bestimmte Verfahren empfehlen würden, ohne viel Rücksicht darauf, wie JuristInnen tatsächlich argumentieren. Teils handele es sich um verkappte Verhaltensvorschriften, die gar nicht umsetzbar sind, z.B. die Vorgabe, „alle Umstände der Situation“ zu berücksichtigen.

    An der juristischen Argumentation selbst, stellt Luhmann fest, gleiten solche Theorien ab. In der Praxis lebt die Argumentation von der Verschiedenartigkeit der Fälle. Damit erreicht sie eine hohe Spezifität, die sich nicht in allgemeine „Prinzipien“ auflösen lässt.

    Begründungen verweisen auf Rechtsbegriffe wie „Schuld“ oder „Haftung“. Ohne Referenz auf einen konkreten Fall wären solche Begriffe jedoch gar nicht verwendbar. Sie dienen nur als Keywords, die einen Analogieschluss zulassen. Auf diese Weise können Fallerfahrungen bewahrt, bestätigt und auf neue Sachverhalte ausgedehnt werden.

    Kurz, juristische Argumentation ist nicht aus Vernunftprinzipien ableitbar. Sie kann sich nicht auf ein Denkpotential berufen, das allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung stünde. Sondern nur auf ihr eigenes: Argumentiert wird professionell, auf Basis einer Systemrationalität, die die rechtliche Kommunikation selbst festlegt.

    Vollständiger Text: lu

    • 1 Std. 21 Min.
    78. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 338, K08

    78. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 338, K08

    Zum Auftakt weist Luhmann darauf hin, was Argumentation im Rechtssystem nicht vermag: Argumente können geltendes Recht nicht ändern. Im Gegensatz dazu schränkt das geltende Recht die Möglichkeiten ein, wie argumentiert werden kann. Zum Beispiel: nicht mit Moral.

    Durch Texte sind verschriftlichtes Recht und mündliche Argumentation strukturell gekoppelt. Das heißt, Argumente müssen den vorliegenden Fall in Bezug setzen zum geltenden Recht und dieses interpretieren. Zum Beispiel muss ein Gesetzestext auf die Frage hin interpretiert werden, ob ein gleicher Fall vorliegt oder nicht. An welchen Begriff jedoch dabei angeknüpft wird, ob und wie oft eine Textstelle zitiert wird – all das war offen, als der ursprüngliche Text des geltenden Rechts entstand.

    Das heißt, Texte halten im Rechtssystem Strukturen fest, die jederzeit reproduziert werden können. Wann und wie diese Strukturen dann aber tatsächlich reproduziert werden, das geben sie nicht vor. Texte sind invariabel, sie existieren in einer Simultanpräsenz, alle gleichzeitig. Mündliche Kommunikation erfolgt dagegen in einer Sukzessionspräsenz. Man greift einzelne Aspekte aus dem Text heraus, an die unmittelbar angeschlossen werden kann. Hier ist Variation möglich, durch andere Begrifflichkeiten, neuartige Auslegung.

    Texte haben darum eine herausragende Bedeutung für das Rechtssystem: Gesetzestexte, Gesetzeskommentare, Gerichtsentscheidungen u.a. Dokumente ermöglichen eine vereinfachte Selbstbeobachtung. Zentral ist dabei die fachliche Fähigkeit von JuristInnen, diejenigen Textstellen überhaupt zu finden, die bei der Entscheidungsfindung relevant werden könnten. Einschlägige Textstellen zu finden und zu interpretieren, kann dabei zunächst auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung durchgeführt werden.

    Interpretation ist jedoch weit mehr als die bloße Verdeutlichung des Originaltextes in eigenen Worten. Faktisch entsteht dabei ein neuer Text auf Basis des alten. Und das Original dient darin nur noch als Referenz.

    Die Fähigkeit zur Beobachtung zweiter Ordnung wird JuristInnen abverlangt, sobald sie mit der Interpretation auch argumentieren müssen. Denn die Frage ist ja schon beim Lesen der Rechtstexte: Wie könnte man die eigene Auslegung in der Kommunikation handhaben? Sobald Zweifel auftauchen, ob der Text so oder so ausgelegt werden könnte, gilt es, mehrere Auslegungswege zu durchdenken. Dabei geht es darum, die dem ursprünglichen Text zugrunde liegende Entscheidungsregel zu finden und diese zu begründen. Der Anlass kann sein, dass die bisherige Auslegungsart zu unbefriedigenden Ergebnissen geführt hat.

    Das heißt, dass auch schon bei der Interpretation von Texten Beobachtung zweiter Ordnung möglich ist. Das beginnt mit der Frage, welche „ursprüngliche Intention“ der Text gehabt haben könnte. Dem Rechtstext muss dabei eine Rationalität unterstellt werden, die von der Rationalität und von der Intention der Institution abgeleitet wird, die ihn geschaffen hat. Etwa: der Gesetzgeber.

    Die herkömmliche, begründende Argumentationstheorie orientierte sich an der Frage, ob ein Argument akzeptiert oder abgelehnt wird. Denn das ist evaluierbar. Dabei geht man davon aus, das Recht würde sich anhand von zwei primären Unterscheidungen selbst beobachten: Wie lassen sich anhand von Rechtstexten sichere Gründe für Argumente anführen? Wie lassen sich Argumente durch das Auffinden von Fehlern bei der Auslegung entkräften?

    „Fehler“ und „Gründe“ sind jedoch kein Gegensatz. Es ergibt keinen Sinn, das eine vom anderen zu „unterscheiden“. Beide Vorgehensweisen haben eine je eigene Funktion.

    Die Suche nach „Fehlern“ dient der Logiküberprüfung. Anhand der Fehlerfrage kann man unterscheiden: Ist die Argumentation und deren Prämissen logisch fehlerfrei oder fehlerhaft?

    Vollständiger Text auf Luhmaniac.de

    • 1 Std. 23 Min.
    77. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 333, K07

    77. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 333, K07

    Letzter Abschnitt über die Stellung der Gerichte im Rechtssystem: In einem primär funktional ausdifferenzierten System können auch andere Differenzierungsformen fortbestehen oder sich bilden. So gibt es in Politik, Wirtschaft und Recht je ein Entscheidungszentrum aus Staat, Banken und Gerichten. Nur in diesen Zentren finden wir noch eine weitere Ausdifferenzierung durch Hierarchie vor. In der Peripherie gibt es diese Hierarchie nicht.

    Die moderne Gesellschaft ist primär funktional differenziert: Globale Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft, Recht erfüllen als jeweils autonome Kommunikationssysteme unverzichtbare Funktionen für die Gesellschaft.

    Neben dieser dominanten Differenzierungsform können andere Formen gleichzeitig bestehen. Im Rechtssystem finden wir eine Differenzierung von Zentrum/Peripherie vor. Gerichte haben dort das Entscheidungszentrum gebildet. Daraus kann man den Schluss ziehen, dass funktionale Differenzierung, wenn sie einmal bestimmend ist, auch andere Differenzierungsformen zu neuer Blüte bringen kann.

    Diese Annahme überprüft Luhmann, indem er analysiert, welche Differenzierungsformen wir in Wirtschaft und Politik vorfinden, also: über die primär funktionale Differenzierung hinaus.

    In der Wirtschaft stoßen wir auf ähnliche Strukturen. So wie Gerichte diverse Paradoxien des Rechtssystems managen (zum Beispiel, dass sie, um Recht zu sprechen, selbst „Richterrecht“ erzeugen), managen Banken Widersprüche des Wirtschaftssystems. Etwa, dass jede Geldzahlung gleichzeitig Zahlungsfähigkeit (beim Empfänger) und Zahlungsunfähigkeit (bei dem, der zahlt) erzeugt. Diese Paradoxie managen Banken, indem sie Zeitdifferenzen gewinnbringend nutzen: Sie vergeben Kredite, die allmählich mit Zinsen zurückgezahlt werden müssen. Ebenso bringen Einlagen während der vereinbarten Anlagezeit Zinsgewinne.

    Allen Geschäften zugrunde liegt ein Zahlungsversprechen. Also ein Risiko, da man nie weiß, ob sich die Erwartung in der unvorhersehbaren Zukunft erfüllen wird. Die Geldtheorie hatte den Faktor Zeit bei der Vermehrung der Geldmenge lange vernachlässigt.

    Eine weitere Paradoxie, die Banken im Zusammenspiel mit der Zentralbank managen, besteht darin, die Geldmenge im System mal als konstant, mal als variabel zu behandeln.

    Im Unterschied zu Gerichten sind Banken aber eher Abschluss der funktionalen Ausdifferenzierung der Wirtschaft als System. Depositenbanken etwa, bei denen der Kunde der Bank Kredit gewährt durch Einlagen wie „Termingeld“, sind eine relativ junge Organisationsform. Im Gegensatz dazu markierte die Entstehung von Gerichten den Beginn der funktionalen Ausdifferenzierung des Rechtssystems. Beide Systeme sind in ihrer Selbstreproduktion (Autopoiesis) jedoch gleichermaßen von außen nicht mehr steuerbar; was man besonders an den Finanzmärkten bestaunen kann.

    Im Wirtschaftssystem bilden Banken das Zentrum. ...

    (Vollständiger Text auf luhmaniac.de)

    • 1 Std. 16 Min.
    76. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 328, K07

    76. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 328, K07

    In der geschichteten Gesellschaft hatten Adel und Volk nicht die gleichen Rechte. Infolge des Justizverweigerungsverbots entfallen solche gesamtgesellschaftlichen Vorgaben für die Rechtsentscheidung. Gerichte ersetzen sie durch Vorgaben, die sie autonom definieren können und die ausschließlich ihrer Funktion dienen: Profession und Organisation.

    Die „gottgebene“ Schichtung der Ständegesellschaft ist kein Entscheidungskriterium mehr. Das Gericht ersetzt derlei Vorgaben durch selbst bestimmbare Vorgaben: Organisation und Profession werden entscheidend dafür, wer wie unter welchen Bedingungen „Mitglied“ des Gerichtssystems werden kann und wie Entscheidungen herbeizuführen sind.

    Beide Vorgaben sind funktional orientiert. Sie dienen der Autopoiesis und damit der Autonomie. Das Gerichtssystem organisiert seine Kommunikation selbst – in Form von Behörden, Ausbildungsbedingungen, Kompetenznachweisen, Selbstaufsicht etc.

    Evolutionär war diese Entwicklung riskant. Immerhin wurde die Rechtsentscheidung von einer Vorgabe abgeschnitten, die jahrtausendelang das Weltbild geprägt hatte. Auch wenn es Kritik gibt, die bezweifelt, dass Gerichte unabhängig vom sozialen Ansehen entscheiden würden – es bleibt die soziologische Frage: Welche sozialen Einrichtungen waren nötig, um eine derartige Autonomie zu behaupten und abzusichern?

    Als Voraussetzungen kann man feststellen: Profession und Organisation. Aber was bedeutet das? Die Theorie sozialer Systeme bricht diese Begriffe auf die operationale Ebene herunter: Beides sind Operationen, die durch Kommunikation ausgeübt werden.

    Die Kommunikation ist funktional, sie dient der Grenzziehung zwischen Gerichtssystem und Umwelt. Indem das Gerichtssystem laufend eingrenzt, was professionell/unprofessionell ist, reproduziert es sich selbst. Der Begriff der Autopoiesis wird hierin erneut greifbar: Wie jedes soziale System, reproduziert auch das Gerichtssystem alle Kommunikationen, aus denen es besteht, ausschließlich selbst.

    Wie man RichterIn werden kann, was als professionell zu gelten hat, all das kann das Gericht selbst definieren und laufend internen Bedürfnissen anpassen. Die gesamtgesellschaftliche Vorgabe der Schichtung wird durch systeminterne Vorgaben ersetzt: Es braucht juristische Kompetenz, um Rechtsentscheidungen zu treffen.

    Durch Kompetenz wird dann auch die Frage entschieden, welche Organisationen ein Gerichtssystem braucht, welche Rollen es gibt und wie diese Organisationen zu arbeiten haben. Das System reguliert sich selbst und zwingt sich zur Selbstbeobachtung. Es gibt eine Dienstaufsicht. Es definiert, wie viel erledigt werden muss. Es koordiniert zeitliche Abläufe durch Termine. Die Interaktion im Gerichtssaal bedeutet Kommunikation unter Anwesenden und ist durch selbst entworfene Verfahrensregeln festgelegt. Der Umgang mit Fehlern ist systemintern reglementiert. Interne Streitigkeiten werden durch Argumentation gelöst, die wiederum professionell sein muss. Wer welche Positionen, Einkommen und Karrierewege einschlagen kann, wird ebenso durch Kommunikation definiert. Profession ist die Voraussetzung für Organisation.

    Karrierefragen werden durch Selbst- plus Fremdreferenz entschieden. Zwei Perspektiven müssen miteinander abgeglichen werden. Dies mag sich systemintern auf das Verhalten von RichterInnen auswirken. Die Umwelt könnte aber ihr Verhalten nicht „steuern“. Ein negatives Presse-Echo auf ein Urteil würde nichts am Gehalt, an der Position und an der Rechtsgültigkeit der Entscheidung ändern. RichterInnen können nicht für die Folgen ihrer Entscheidung verantwortlich gemacht werden! Durch Organisation wird dieses Risiko abgedeckt. Organisation ermöglicht Unverantwortlichkeit für die Folgen von Entscheidungen.

    Profession und Organisation sind also funktional äquivalent. Durch Profession kann das Gericht autonom entscheiden...

    Vollständiger Text auf luhmaniac.de

    • 1 Std. 15 Min.
    75. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 325, K07

    75. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 325, K07

    Im Rechtssystem bilden Gerichte das Zentrum. Und nur dort gibt es einen Zwang zu entscheiden. Was bedeutet das für die operative Geschlossenheit des Systems? Dies untersucht der sechste Abschnitt in zeitlicher und sachlicher Hinsicht.

    Zunächst geht es um die Zeitdimension von Entscheidungen. Eine Entscheidung kann nur in der Gegenwart getroffen werden. Sie unterbricht den Zusammenhang von Vergangenheit und Zukunft und stellt ihn neu wieder her. Die Form dieser Unterbrechung und Neuverknüpfung nennen wir eine Entscheidung.

    Wie aber verknüpft ein operativ geschlossenes System Vergangenheit und Zukunft?

    Die Vergangenheit wird im Fallformat rekonstruiert, mithilfe des Rechts, das ebenfalls in der Vergangenheit zustande kam. Beachtet wird nur, was für den Fall rechtsrelevant ist. Alles andere wird abgeschnitten. Aus dieser Limitierung von Informationen zur Vergangenheit ließe sich allerdings noch keine Gerichtsentscheidung ableiten.

    Es braucht zusätzlich einen rechtlichen Zukunftsentwurf. Die Zukunft wird skizziert, indem man Entscheidungsregeln entwickelt, die dann auch für gleiche Fälle in der zukünftigen Gerichtspraxis gelten werden. Zum Beispiel: Regeln, wie Gesetze zu interpretieren sind oder wie der Fall abstrahiert werden kann. Es gilt, Beschränkungen zu erfinden, die in Zukunft bindend sein werden. Man mutmaßt in der Gegenwart über eine zukünftige Gegenwart.

    Auf diese Weise schließt sich das Kommunikationssystem Recht zeitlich. Die Entscheidung des Gerichts konstruiert eine Verbindung von Vergangenheit und Zukunft, für die es so in der Realität keine Entsprechung gibt. Die Zukunft wird auch von anderen, unabsehbaren Entscheidungen mitgeprägt werden. Wenn die heute prognostizierte Zukunft eintritt, wird sie eine andere sein als die Prognose vermuten ließ. Die Gerichtsentscheidung konstruiert eine Eigenzeitlichkeit des Falls, eine zweite Zeit.

    Zeit wird als Differenz gehandhabt: Sie ist die Konstruktion eines Beobachters. Jede Beobachtung, die in der Kommunikation zum Ausdruck bringt, muss mit anderen Beobachtungen synchronisiert werden. Dabei handelt es sich zwangsläufig um eine Auswahl von Unterscheidungen und Bezeichnungen. Nur das, was zugrunde gelegt wird, ist anschlussfähig für andere Kommunikationen.

    Bei der rechtlichen Entscheidungsfindung erfüllt die Rekonstruktion der verschiedenen Perspektiven des Streitfalls die Funktion, sich auf die streitenden Parteien und auf die Vergangenheit zu beziehen. Das Erfinden von Entscheidungsregeln („Richterrecht“), die in gleichen Fällen wiederverwendet werden können, erfüllt dagegen die Funktion, sich auf die Zukunft zu beziehen und gesellschaftliche Erwartungen an das Recht zu stabilisieren.

    In der Sachdimension fällt auf, dass Gerichte sich selbst darin überwachen, ob ihre Entscheidungen auch konsistent sind. Dies geschieht durch Beobachtung zweiter Ordnung. Gerichte beobachten Rechtsentscheidungen (Rechtsprechung, Gesetzgebung und Verträge), welche ebenfalls zuvor Rechtsentscheidungen beobachtet hatten. All dies geschieht durch Interpretation von Texten.

    Gerichte interpretieren Rechtsentscheidungen allerdings anders als Politik und Wirtschaft. Gesetzgeber und Vertragspartner müssen nicht konsistent zwischen rechtmäßigen und nicht rechtmäßigen Interessen unterscheiden. Gesetze und Verträge dienen politischen bzw. wirtschaftlichen Zwecken. Wie ein Gericht das Gesetz oder den Vertrag im Streitfall beurteilen würde, können Politik und Wirtschaft nur antizipieren. Gerichte belegen dagegen durch Argumentation, dass ihre Entscheidungen rechtlich konsistent sind.

    Vollständiger Text auf www.luhmaniac.de

    • 57 Min.
    74. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 320, K07, V

    74. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 320, K07, V

    Einst hierarchisch differenziert, sind Politik und Recht heute funktional differenzierte Systeme gleichen Ranges. Dieser Wechsel der Differenzierungsform wurde erst möglich, nachdem sich das Recht intern ausdifferenzierte: in ein Zentrum und eine Peripherie.

    In der Ständegesellschaft waren Politik und Recht nur formal getrennt. In der Praxis stand die Gesetzgebung des Monarchen meist hierarchisch über der Rechtsprechung. Im Übergang zur Moderne kommt es zu einem Wechsel dieser Differenzierungsform. Angestoßen wird der Umbau durch das Verbot der Justizverweigerung. Damit bürden sich Gerichte selbst den Zwang auf, jeden ihnen vorgelegten Fall rechtlich zu entscheiden – auch wenn es gar keine Gesetze gibt, die eine Entscheidung möglich machen.

    Dieser Zwang zu entscheiden ermöglicht Gerichten jedoch die Freiheit, selbst Regeln zu entwickeln, wie sie trotz mangelhafter Gesetzeslage entscheiden können. Das Rechtssystem differenziert sich entlang dieser Anforderung intern neu aus nach dem Schema Zentrum/Peripherie. Gerichte bilden nun das Zentrum. Nur im Zentrum muss zwischen rechtmäßigen/unrechtmäßigen Interessen entschieden werden. Alle anderen Operationen des Rechts, von der Gesetzgebung über die Verträge der Wirtschaft bis zum Testament, bilden die Peripherie des Rechtssystems. Dort muss nicht zwischen rechtmäßigen/unrechtmäßigen Interessen unterschieden werden. Gesetze und Verträge sind zwar rechtlich bindend, aber ob sie rechtlich „richtig“ erstellt wurden, ist damit noch nicht gesagt. Nur ein Gericht könnte das entscheiden.

    Innerhalb des Kommunikationssystems Recht findet also ein Umbau statt. Das Gericht hat sich seine Alleinzuständigkeit für die Unterscheidung von rechtmäßigen und unrechtmäßigen Interessen gesichert, begründet mit einzigartiger Kompetenz, die sonst nirgendwo in der Gesellschaft erfüllt werden könnte. Aus seinem Entscheidungszwang schöpft das Gericht, wie gesagt, zugleich die Freiheit, bei fehlenden gesetzlichen Grundlagen selbst Regeln zu entwickeln, wie trotz Unentscheidbarkeit entschieden werden kann.

    Durch dieses „Richterrecht“ schafft das Gericht jedoch selbst Recht, was gar nicht seine Funktion ist. Diese Paradoxie managen die Gerichte dann in „kognitiver Selbstisolation“: Sie entwickeln strenge, interne Regeln, welche Kompetenzen Richter brauchen, um „Mitglied“ des Gerichtssystems werden zu dürfen, und natürlich: wie Gerichtsverfahren abzulaufen haben und wie man trotz Unentscheidbarkeit entscheiden kann und sogar muss. Im Gegenzug kann die Peripherie Gesetze erlassen und Verträge verabschieden, ohne zwischen rechtmäßigen und unrechtmäßigen Interessen unterscheiden zu müssen.

    Am Ende dieses Umbauprozesses sind Politik und Recht jeweils autonom. Kein System ist „wichtiger“ als das andere. Eine Hierarchie zwischen ihnen gibt es nicht mehr. Aber es gibt eine Hierarchie innerhalb des Zentrums im Recht. Bestimmte Gerichte stehen rangmäßig über den anderen, etwa das Verfassungsgericht an der Spitze. Zugleich gibt es dort segmentäre Differenzierung: Gleiche Gerichtsformen sind in ihrem Rang untereinander gleich.

    Damit finden wir heute folgende Differenzierungsformen vor:
    Differenzierung zwischen Politik und Recht: funktional und segmentär (gleichrangig)
    Interne Differenzierung des Rechts: Zentrum (Gerichte)/Peripherie (Gesetzgebung und Verträge)
    Interne Differenzierung im Rechtszentrum: Hierarchie (Rangungleichheit zwischen verschiedenen Gerichten) plus Segmentierung (gleiche Gerichte sind ranggleich)

    Der Umbau der Politik/Recht-Differenzierung von hierarchisch auf funktional erforderte also eine weitere Differenzierungsform, die nur innerhalb des Rechts vollzogen wurde: die interne Differenzierung in ein Zentrum für Gerichte und eine Peripherie für Gesetze und Verträge.

    Vollständiger Text auf www.luhmaniac.de

    • 1 Std. 38 Min.

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