Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich | Buchkritik

SWR Kultur lesenswert - Literatur

Zu Beginn sollte man einem Missverständnis vorbeugen: Macht und Herrschaft im Zarenreich - dahinter könnte sich womöglich eine zähe Strukturgeschichte verbergen, ein akribischer Röntgenblick durch das gesamte Herrschaftssystem zwischen Baltikum und Wladiwostok bis hinunter ins kleinste Dorf, der auf über tausend Seiten dann wirklich nur absolute Insider interessiert. Zum Glück aber ist dieses dicke Buch alles andere als das. Jörg Baberowski hat eine bewundernswert kenntnisreiche und dennoch gut lesbare, stellenweise sogar fesselnde Geschichte der Zarenherrschaft geschrieben. Sie beginnt um 1700 herum, mit jenem Zaren, der in Russland ein neues Zeitalter einleitete: mit Peter dem Großen.

Schwerwiegendes Strukturproblem

Peter wollte den Fortschritt Europas nach Russland bringen. Aber Jörg Baberowski sieht einen ähnlichen Mangel wie unter Peters Vorgängern:

Rußland wurde nicht von Königen und Ständen, sondern von Tyrannen und Sklaven regiert.

Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich

Denn unter Peter und unter seinen Nachfolgern litt das Riesenreich - anders als etwa Frankreich, England oder Preußen - unter einem fatalen Strukturproblem.

In Rußland gab es keinen mächtigen, regional verwurzelten Adel mit Grundbesitz, dessen Wert schwer gewogen hätte. Die Adligen waren Knechte des Zaren und zugleich Herren der Bauern. Auf diesem Fundament ruhte das System der Selbstherrschaft.

Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich

Mit Gewalt auf allen Ebenen, bis hinunter ins kleinste Dorf auf Kamtschatka. Nur so ließ sich das größte Land der Erde zusammenhalten. Dabei kann Baberowski zeigen, wie sich im 19. Jahrhundert durchaus freiheitliche Ideen ausbreiteten. Um 1880 schien in Petersburg gar eine regelrechte Aufbruchsstimmung zu herrschen. Kein anderer als Fjodor Dostojewski beschwor die Mission Russlands, die ganze Menschheit im Frieden zu vereinen. Seine Zuhörer reagierten euphorisch, wie Dostojewski seiner Frau schrieb:

Ich kann Dir das Geheul, das Gebrüll der Begeisterung gar nicht beschreiben: Die Menschen im Publikum weinten, Fremde fielen sich in die Arme und brachen in Tränen aus und schworen einander, bessere Menschen zu sein, sich in Zukunft nicht mehr zu hassen, sondern zu lieben. Alle stürzten zu mir aufs Podium, vornehme Damen, Studenten, Staatssekretäre und wieder Studenten – all das umarmte und küßte mich. Alle, buchstäblich alle, weinten vor Begeisterung.

Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich

Von der westlichen Aufklärung abgeschnitten

Aber solche Ideen der Freiheit, der Menschenwürde und der Aufklärung schlugen keine Wurzel; und sie kamen für das Riesenreich viel zu spät. Baberowski konstatiert:

Die Vorstellung, der Mensch sei ein autonomes Wesen, verbreitete sich in Rußland erst zu einer Zeit, als sich der autoritäre Staat im Leben der Untertanen bereits fest verwurzelt hatte. In Rußland waren Freiheit und Individualität mit der Vorstellung verbunden, eine Person könne nur sein, wer sich dem Staat und seinen Formen widersetzte.

Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich

Also ein anarchische Totalobstruktion, ähnlich wie sie heute mitunter in sogenannten sozialen Netzwerken en vogue ist. Unter diesen Umständen konnte man für sinnvolle Oppositionsarbeit kaum Anhänger finden. So hielt Kirchenminister Konstantin Pobedonoszew den Liberalen sein pessimistisches Menschenbild entgegen:

Pobedonoszew glaubte nicht an die erzieherische Kraft vernünftiger Argumente. Schwach, selbstsüchtig, dumm, gegenüber jeder Vernunft immun seien die meisten Menschen. Demokratie und Rechtsstaat seien in den Ländern des Westens Schöpfungen einer gebildeten, selbstdisziplinierten Elite, die sich auf

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