Eine der vielen Figuren im literarischen Kosmos von Karl Ove Knausgård ist der Architekt Helge. Zu seinem 60. Geburtstag hat eine große norwegische Tageszeitung ein Interview mit ihm geführt, das er nun zu Hause in seinem Arbeitszimmer liest. Da sagt er unter anderem:
Ich glaube, dass alle Menschen gleich viel wert sind. Und dass das, was zwischen den Menschen entsteht, was wir gemeinsam erschaffen, mehr ist als das, was jeder für sich ist. Und dass das vielleicht eine Form des Göttlichen ist.
Quelle: Karl Ove Knausgård
Eine Summe von Selbstporträts, die größer ist als ihre Teile
An dieser Stelle hört der Architekt auf weiterzulesen, weil er den Blick auf sich selbst und seine Bedeutungshuberei nicht länger erträgt. Und doch sind diese Sätze zentral, weil sie genau das beschreiben, was Knausgård literarisch unternimmt: Alle seine Figuren – sympathische und weniger sympathische – sind gleich viel wert, schon deshalb, weil sie alle als Ich-Erzähler auftreten. Aus der Summe der Selbstporträts erschafft Knausgård zugleich etwas, das größer ist als jede einzelne Person. Da ist zum Beispiel der Lehrer Gaute, der von einer krankhaften Eifersucht auf seine Frau umgetrieben wird. Seine Frau Kathrine, eine Pastorin, ist von ihm schwanger, hat es ihm aber noch nicht gesagt, denn sie denkt über Trennung nach. Da ist der Polizist Geir, der einen grausamen Ritualmord an drei jungen Musikern einer Black-Metal-Band aufklären soll und der zwischen zwei Frauen lebt, die nichts voneinander wissen. Oder die neunzehnjährige Line, die sich in einen so undurchschaubaren wie attraktiven Philosophiestudenten verliebt und ihm zu einem geheim gehaltenen Konzert auf dem Land hinterher reist.
Am Himmel erscheint ein neuer Stern
„Das dritte Königreich“ ist der dritte, mit 650 Seiten vergleichsweise schmale Band eines groß angelegten Romanprojektes. Man muss die beiden ersten Bände nicht gelesen haben, um in den dritten hineinzufinden, doch ohne Kenntnis der früheren entgeht einem Vieles. Die Figuren und die Ereignisse sind zum größten Teil bekannt, denn Knausgård schildert erneut dieselben zwei Tage, bevor ein mysteriöser neuer Stern am Himmel erscheint. Nun jedoch dreht er Perspektiven um. So schilderte im ersten Band mit dem Titel „Der Morgenstern“ der Literaturwissenschaftler Arne seine Ferien mit den drei Kindern und seiner Frau Tove an einem fischreichen Fjord. Tove erleidet dort einen psychotischen Schub, so dass er sie schließlich in die Psychiatrie bringen muss. Jetzt erzählt Knausgård dieselbe Episode aus ihrer, Toves Sicht, so dass sich aus dem Bekannten eine ganz andere Ereignisfolge ergibt. Er erzählt nicht weiter, sondern verharrt an selber Stelle und geht über neue Einzelheiten in die Tiefe. Das ist raffiniert gemacht und aufregend zu lesen, weil es zeigt, wie sich Wirklichkeit und Wahrnehmung unterscheiden, wie Rationalität und Wahn als zwei Systeme getrennt nebeneinander existieren und die Figuren dennoch in derselben Welt leben. Tove ist es dann auch, die in ihrem Wahn als erste erfasst, dass sich seltsame Phänomene ereignen. Sie hört Stimmen, die zu ihr sprechen:
In zwei Tagen wird ein Stern am Himmel aufsteigen. Die Tore zum Totenreich werden sich öffnen. Du wirst sehen, was kein anderer sehen kann. Das ist unser Geschenk an dich.
Quelle: Karl Ove Knausgård – Das dritte Königreich
All das sind spannende Geschichten, die Knausgård auch in diesem Band nicht zu Ende erzählt, sondern gekonnt in der Schwebe hält. Doch es geht ihm nicht primär um den Plot, sondern viel mehr um die Frage, was der Mensch überhaupt ist und was die Substanz des Lebens ist. Auch in diesem dritten Band lotet er immer wieder die Grenze von Leben und Tod aus und stellt dem detailversessen dargestellten Alltag das Unerklärliche, Unbegreifliche gegenüber. Dafür steht symbolhaft der neue Stern als Menetekel
Informationen
- Sendung
- HäufigkeitTäglich
- Veröffentlicht26. Mai 2024 um 15:04 UTC
- Länge6 Min.
- BewertungUnbedenklich