Lyrikschule

Johannes Thiele
Lyrikschule

Gedichte verstehen Der Podcast verbindet Gedichtrezitation und Deutungsansätze zu den Texten. Damit soll ein erster Verstehenszugang ermöglicht werden. Die Textauswahl umfasst sämtliche Epochen der deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart und nimmt sowohl sehr bekannte als auch weniger bekannte Texte in den Blick.

  1. 12/22/2023

    Folge 76 - Weihnachten (Rilke, Storm, Loriot)

    Weihnachten ist die Zeit der Besinnung, die Zeit der Kinder, auch eine melancholische Zeit und nicht zuletzt eine Zeit der absurden Rituale und nervenaufreibenden Familienfeiern. Anhand von drei Gedichten sollen Schlaglichter auf diese Zeit geworfen werden, wenngleich es sich nicht um die ganz typischen Weihnachtsgedichte 'unterm Tannenbaum' handelt. Rainer Maria Rilke Das KarussellJardin du LuxembourgMit einem Dach und seinem Schatten drehtsich eine kleine Weile der Bestandvon bunten Pferden, alle aus dem Land,das lange zögert, eh es untergeht.Zwar manche sind an Wagen angespannt,doch alle haben Mut in ihren Mienen;ein böser roter Löwe geht mit ihnen und dann und wann ein weißer Elefant.Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald,nur dass er einen Sattel trägt und drüberein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt. Und auf dem Löwen reitet weiß ein Jungeund hält sich mit der kleinen heißen Handdieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge. Und dann und wann ein weißer Elefant. Und auf den Pferden kommen sie vorüber,auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprungefast schon entwachsen; mitten in dem Schwungeschauen sie auf, irgendwohin, herüber –.Und dann und wann ein weißer Elefant.Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,ein kleines kaum begonnenes Profil –.Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,ein seliges, das blendet und verschwendetan dieses atemlose blinde Spiel ... Theodor Storm Weihnachtslied Vom Himmel bis in die tiefsten Klüfteein milder Stern herniederlacht;vom Tannenwalde steigen Düfteund kerzenhelle wird die Nacht. Mir ist das Herz so froh erschrocken, das ist die liebe Weihnachtszeit! Ich höre fern her Kirchenglocken mich lieblich heimatlich verlocken in märchenstille Herrlichkeit. Ein frommer Zauber hält mich wieder, anbetend, staunend muß ich stehn; es sinkt auf meine Augenlider ein goldner Kindertraum hernieder, ich fühl's, ein Wunder ist geschehn. Loriot Advent Es blaut die Nacht. Die Sternlein blinken. Schneeflöcklein leis’ niedersinken. Auf Edeltännleins grünem Wipfel häuft sich ein kleiner weißer Zipfel. Und dort, vom Fenster her durchbricht den dunklen Tann' ein warmes Licht. Im Forsthaus kniet bei Kerzenschimmer die Försterin im Herrenzimmer. In dieser wunderschönen Nacht hat sie den Förster umgebracht. Er war ihr bei des Heimes Pflege seit langer Zeit schon sehr im Wege. So kam sie mit sich überein: Am Niklasabend soll es sein. Und als das Rehlein ging zur Ruh', das Häslein tat die Augen zu, erlegte sie - direkt von vor'n - den Gatten über Kimm' und Korn. Vom Knall geweckt rümpft nur der Hase zwei-, drei-, viermal die Schnuppernase. Und ruhet weiter süß im Dunkeln, Derweil die Sternlein traulich funkeln. Und in der guten Stube drinnen, da läuft des Försters Blut von hinnen. Nun muß die Försterin sich eilen, den Gatten sauber zu zerteilen. Schnell hat sie ihn bis auf die Knochen nach Waidmanns Sitte aufgebrochen. Voll Sorgfalt legt sie Glied auf Glied - was der Gemahl bisher vermied - Behält ein Teil Filet zurück, als festtägliches Bratenstück. Und packt zum Schluss - es geht auf vier - die Reste in Geschenkpapier. Da dröhnt's von fern wie Silberschellen. Im Dorfe hört man Hunde bellen. Wer ist's, der in so tiefer Nacht im Schnee noch seine Runde macht? Knecht Ruprecht kommt mit gold’nem Schlitten auf einem Hirsch herangeritten! »He, gute Frau, habt ihr noch Sachen, die armen Menschen Freude machen?« Des Försters Haus ist tief verschneit, doch seine Frau steht schon bereit: »Die sechs Pakete, heil'ger Mann, 's ist alles, was ich geben kann!« Die Silberschellen klingen leise. Knecht Ruprecht macht sich auf die Reise. Im Försterhaus die Kerze brennt. Ein Sternlein blinkt: Es ist Advent.

    23 min
  2. 12/08/2023

    Folge 75 - Krieg dem Kriege (Kurt Tucholsky)

    In der heutigen Folge soll erneut ein pazifistisches Gedicht im Mittelpunkt stehen. Es ist nicht das erste auf diesem Kanal, was zeigt, wie wichtig mir das Thema ist. Wichtig einerseits und andererseits erschütternd, wie wenig der Mensch dazuzulernen scheint, wie blindwütig er sich anschickt, munter die alten Fehler zu wiederholen und zu wiederholen und zu wiederholen. Das tut aber der Größe dieses Textes, der keinesfalls blind, sondern geradezu hellsichtig zu nennen wäre, keinen Abbruch! Krieg dem Kriege Sie lagen vier Jahre im Schützengraben.Zeit, große Zeit!Sie froren und waren verlaust und habendaheim eine Frau und zwei kleine Knaben, weit, weit –! Und keiner, der ihnen die Wahrheit sagt.Und keiner, der aufzubegehren wagt.Monat um Monat, Jahr um Jahr … Und wenn mal einer auf Urlaub war, sah er zu Haus die dicken Bäuche. Und es fraßen dort um sich wie eine Seucheder Tanz, die Gier, das Schiebergeschäft.Und die Horde alldeutscher Skribenten kläfft: „Krieg! Krieg! Großer Sieg! Sieg in Albanien und Sieg in Flandern!“Und es starben die andern, die andern, die andern … Sie sahen die Kameraden fallen.Das war das Schicksal bei fast allen: Verwundung, Qual wie ein Tier, und Tod. Ein kleiner Fleck, schmutzigrot –und man trug sie fort und scharrte sie ein.Wer wird wohl der nächste sein? Und ein Schrei von Millionen stieg auf zu den Sternen. Werden die Menschen es niemals lernen? Gibt es ein Ding, um das es sich lohnt?Wer ist das, der da oben thront,von oben bis unten bespickt mit Orden,und nur immer befiehlt: Morden! Morden! – Blut und zermalmte Knochen und Dreck … Und dann hieß es plötzlich, das Schiff sei leck.Der Kapitän hat den Abschied genommenund ist etwas plötzlich von dannen geschwommen.Ratlos stehen die Feldgrauen da. Für wen das alles? Pro patria? Brüder! Brüder! Schließt die Reihn!Brüder! das darf nicht wieder sein!Geben sie uns den Vernichtungsfrieden,ist das gleiche Los beschieden unsern Söhnen und euern Enkeln. Sollen die wieder blutrot besprenkelndie Ackergräben, das grüne Gras?Brüder! Pfeift den Burschen was!Es darf und soll so nicht weitergehn. Wir haben alle, alle gesehn, wohin ein solcher Wahnsinn führt – Das Feuer brannte, das sie geschürt.Löscht es aus! Die Imperialisten,die da drüben bei jenen nisten, schenken uns wieder Nationalisten. Und nach abermals zwanzig Jahrenkommen neue Kanonen gefahren. –Das wäre kein Friede.                             Das wäre Wahn. Der alte Tanz auf dem alten Vulkan. Du sollst nicht töten! hat einer gesagt.Und die Menschheit hörts, und die Menschheit klagt.Will das niemals anders werden?Krieg dem Kriege!                         Und Friede auf Erden.

    22 min
  3. 09/26/2023

    Folge 71 - Politische Lyrik (Bürger, Gellert, Fontane, Grass)

    Wie funktionieren politische Texte? Was sind ihre Strategien? Das wird in dieser Folge an 4 Beispielen gezeigt. Die ersten beiden Texte sind von Gottfried August Bürger (der Bauer an seinen durchlauchtigen Tyann) und Christian Fürchtegott Gellert (das Kutschpferd). Ich kann sie hier leider nicht vollumfänglich zitieren, da die Shownotes auf 4000 Zeichen begrenzt sind. Dafür aber im Folgenden die anderen beiden Texte in ganzer Länge: Theodor Fontane Berliner Republikaner (um 1841)      Berliner Jungen scharten sichVor einiger Zeit allabendlichNicht weit vom KupfergrabenUnd sangen gottserbärmlich: „Wir brauchen keenen Kenig nich, Wir wollen keenen haben!“      Da endlich packt ein FußgendarmNicht eben allzuzart am ArmDen allergrößten Jungen, Und spricht: „He, Bursch, juckt dir das Fell, Du Tausendsapperments-Rebell?Was hast du da gesungen?“      Doch der Berliner comme il fautErwidert: „Hab Er sich nicht so, Und laß Er sich begraben; Wozu denn gleich so ängstiglich,Wir brauchen keenen Kenig nich,Weil wir schon eenen haben!“ Günter Grass Was gesagt werden muss (2012) Warum schweige ich, verschweige zu lange,was offensichtlich ist und in Planspielengeübt wurde, an deren Ende als Überlebendewir allenfalls Fußnoten sind. Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag,der das von einem Maulhelden unterjochteund zum organisierten Jubel gelenkteiranische Volk auslöschen könnte,weil in dessen Machtbereich der Baueiner Atombombe vermutet wird. Doch warum untersage ich mir,jenes andere Land beim Namen zu nennen,in dem seit Jahren - wenn auch geheimgehalten -ein wachsend nukleares Potential verfügbaraber außer Kontrolle, weil keiner Prüfungzugänglich ist? Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes,dem sich mein Schweigen untergeordnet hat,empfinde ich als belastende Lügeund Zwang, der Strafe in Aussicht stellt,sobald er mißachtet wird;das Verdikt "Antisemitismus" ist geläufig.Jetzt aber, weil aus meinem Land,das von ureigenen Verbrechen,die ohne Vergleich sind,Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird,wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auchmit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert,ein weiteres U-Boot nach Israelgeliefert werden soll, dessen Spezialitätdarin besteht, allesvernichtende Sprengköpfedorthin lenken zu können, wo die Existenzeiner einzigen Atombombe unbewiesen ist,doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will,sage ich, was gesagt werden muß. Warum aber schwieg ich bislang?Weil ich meinte, meine Herkunft,die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist,verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheitdem Land Israel, dem ich verbunden binund bleiben will, zuzumuten. Warum sage ich jetzt erst,gealtert und mit letzter Tinte:Die Atommacht Israel gefährdetden ohnehin brüchigen Weltfrieden?Weil gesagt werden muß,was schon morgen zu spät sein könnte;auch weil wir - als Deutsche belastet genug -Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschulddurch keine der üblichen Ausredenzu tilgen wäre. Und zugegeben: ich schweige nicht mehr,weil ich der Heuchelei des Westensüberdrüssig bin; zudem ist zu hoffen,es mögen sich viele vom Schweigen befreien,den Verursacher der erkennbaren Gefahrzum Verzicht auf Gewalt auffordern undgleichfalls darauf bestehen,daß eine unbehinderte und permanente Kontrolledes israelischen atomaren Potentialsund der iranischen Atomanlagendurch eine internationale Instanzvon den Regierungen beider Länder zugelassen wird. Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern,mehr noch, allen Menschen, die in dieservom Wahn okkupierten Regiondicht bei dicht verfeindet lebenund letztlich auch uns zu helfen.

    48 min

About

Gedichte verstehen Der Podcast verbindet Gedichtrezitation und Deutungsansätze zu den Texten. Damit soll ein erster Verstehenszugang ermöglicht werden. Die Textauswahl umfasst sämtliche Epochen der deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart und nimmt sowohl sehr bekannte als auch weniger bekannte Texte in den Blick.

You Might Also Like

To listen to explicit episodes, sign in.

Stay up to date with this show

Sign in or sign up to follow shows, save episodes, and get the latest updates.

Select a country or region

Africa, Middle East, and India

Asia Pacific

Europe

Latin America and the Caribbean

The United States and Canada