Stress, Perfektionismus und die Frage: Wie bleiben wir handlungsfähig – persönlich und im System? Lukas Golder und Jenny Roberts sprechen mit der Psychiaterin Esther Pauchard über realistische Erwartungen (oft reichen 70 %), die Verwechslungsgefahr von Krise und Krankheit, und warum Schonung und Vermeidung selten stärken. Pauchard plädiert für offene Gespräche am Arbeitsplatz, entstigmatisiert Diagnosen ohne sie zu romantisieren und zeigt, wie wir die «Tragenden» im Gesundheitswesen schützen. In der Folge erwähnte Studien: Krebsversorgungsmonitor Begleituntersuchung FMH Schweizerische Gesundheitsbefragung (BFS) CSS-Gesundheitsstudie Transkript zur Episode 00:00:12 Lukas Herzlich willkommen. Fokusthema Gesundheit. Jenny, das Gesundheitswesen ist unter Druck. Wir sind aber auch als Gesellschaft irgendwo insgesamt immer mehr unter Druck. 00:00:24 Jenny Ja, ich habe auch diesen Eindruck. Zumindest ist es ein Thema, das ich auch häufig in meinem persönlichen Umfeld bespreche. Wir reden oft darüber, wie es den einzelnen Leuten geht, aber auch uns allen als Gesellschaft. Die psychische Gesundheit ist sicher auch ein grösseres Thema. Aber auch Stress ist ein grosses Stichwort. Unter anderem wissen wir aus der Gesundheitsbefragung vom BFS, dass mittlerweile im Vergleich zu vor zehn Jahren fast ein Viertel der Leute in der Schweiz sagen, dass sie regelmässig Stress am Arbeitsplatz erleben. Ich denke, es sind ganz verschiedene Themen, die wichtig sind und auf die ich mich freue, im heutigen Gespräch zu vertiefen. 00:01:04 Lukas Reden wir mit der Psychiaterin darüber. Herzlich willkommen, Esther Pauchard. 00:01:09 Esther Merci vielmals. 00:01:09 Lukas Wir haben über eine Gesellschaft geredet, die sich im Stress fühlt, aber du selber hast eigentlich schon als Kind sehr viel Zeit im Spital verbringen müssen, mit einem Hüftleiden von Geburt an. Und du hast nachher als Mutter und bereits in einer Führungsfunktion als Psychiaterin auch noch eine Krebsdiagnose ertragen müssen. Ist es dir selber in diesem Moment zu viel geworden? 00:01:33 Esther Nicht zu viel, aber es hat mich hübsch herausgefordert. Es hat mir ehrlicherweise sehr gut getan, mich einmal auf der anderen Seite des Pults wiederzufinden. Nicht immer auf dieser Seite als Behandlerin, sondern eben als Patientin. Ich habe extrem viel gelernt. Was ich heute aber im Nachhinein sagen kann: Es hat mich auch sehr, sehr gestärkt. Ich will es nicht missen. Es hat mehr aus mir gemacht, als ich vorher war. 00:01:54 Jenny Du hast ja schon die Unterstützung von deinem Mann erwähnt, gerade in dieser schwierigen Phase. Etwas, was wir dank dem Krebsmonitor wissen, den wir unter anderem durchführen, ist, dass grundsätzlich in der Schweiz Leute, die betroffen sind von Krebsdiagnosen, das Gefühl haben, die Versorgung habe eine recht hohe Qualität. Also man ist insgesamt ziemlich zufrieden. Wenn es aber Punkte gibt, die man noch verbessern könnte, nennen die Leute öfter mal die Unterstützung der Betroffenen selber und für ihre Angehörigen, was den psychischen Bereich anbelangt. Hast du das auch so erlebt, dass du dir dort eigentlich mehr Unterstützung gewünscht hättest? 00:02:33 Esther Ich kann es nicht so sagen, aber es ist noch schwierig. Wir sind halt Selbstversorger. Das macht die Situation ein bisschen schwierig. Ich finde eher, dass die Angebote von der Psychoonkologie her recht ausgebaut sind. Mir wurde dort ganz viel angeboten, das ich hätte nutzen können, das ich aber nicht brauchte. Ich denke, in den allermeisten Fällen, sei es bei einer Krebsdiagnose oder sonst bei belastenden Lebensumständen, arbeiten wir selber oder miteinander – mit Angehörigen, mit Freunden, mit Leuten rundherum. Das habe ich dann gemerkt. Ich habe wirklich den Eindruck gehabt, dass meine Leute so wie ein Ring um mich schlossen. Und das habe ich ganz stark empfunden. Ich habe immer gedacht: Alleine alles schaffen – easy. Das hat mir sehr gut getan. Darum habe ich den dritten Kreis, den professionellen, gar nicht gebraucht. Aber ich habe den Eindruck, es gibt viele Angebote. Das ist schon ausgebaut. 00:03:20 Lukas Du gehst ja noch weiter. Du sagst, dass das auf eine Art deine Beziehung zu deinen Kindern gestärkt hat. Indem eine Belastung von dir auch mal für sie spürbar wurde. 00:03:35 Esther Am Anfang war es natürlich schrecklich. Sag mal deinen Kindern, du hättest ein unbekanntes Krebsleiden, das auch eine Metastase sein könnte. Und ich dachte, ich schade diesen Kindern. Ich mache sie kaputt damit. Aber jetzt haben wir gemerkt, wir sind stärker geworden. Wir haben alle zugelegt durch das. Dann hat es auch sie mal gebraucht. Dann haben sie mich auch mal weinen gesehen. Sie haben meine Angst gespürt. Sie haben gespürt, wie ich auf diesem Weg bin. Aber auch, wie ich wieder aufgestanden bin. Und dass man das eben bewältigen kann. Ich glaube, das hat uns als Familie sehr viel mehr gebracht, als wenn es einfach glatt gelaufen wäre. 00:04:05 Lukas Ich glaube auch, dass durch die Bewältigung deiner eigenen Wege und die Verarbeitung deiner eigenen Wege oder deiner Familie es so gekommen ist, dass du immer mehr versucht hast, auch etwas Grundsätzliches zurückzugeben. Und nicht einfach sagen, was kann man machen in der Einzeltherapie oder in der Therapieinstitution, sondern dass du denkst, jetzt gehen wir einen Schritt weiter. Die Gesellschaft ist wirklich unter Stress. Jenny hat es angetönt. Das Empfinden ist am Wachsen. Es sind sehr viele Elemente von Druck. Jetzt wollen wir natürlich von dir wissen, wie wir damit umgehen. 00:04:46 Esther Ich finde, es lohnt sich schon mal, den Druck genauer anzuschauen. Du hast das Wort Stress, also Stressempfinden, gebracht, und das ist ein sehr treffender Begriff. Einerseits haben wir ja den Stressor, also den Druck, der von aussen kommt. Das kannst du physikalisch sehen. Wenn ich etwas doppelt so schnell machen muss, dann habe ich doppelt so viel Druck. Wenn ich doppelt so viel Gewicht tragen muss, dann auch. Das ist das Technische. Aber dann habe ich auf der anderen Seite noch meine persönlichen Komponenten. Wie bewerte ich es? Wie verarbeite ich es? Kann ich damit umgehen? Kann ich es abfangen? Oder heize ich mein Stressempfinden noch immer mehr an, indem ich Widerstand entwickle? Das finde ich ganz wichtig. Wenn die Welt so ist, wie sie ist – und das ist hier der Punkt –, aber ich habe die Welt gerne so, wie sie sein sollte, in diesem Idealzustand, dann ist das, was hier zwischendurch ist, die Spannung, die es gibt; je grösser die ist, desto schlimmer. Man nennt das die Inkongruenz. Und was hier ganz wichtig ist, ist eben auch unsere Erwartung. Und an dem, habe ich den Eindruck, kranken wir heute auch. Das merke ich immer wieder. Wir gehen so davon aus, es muss alles ideal laufen. Also wir haben unsere Normlatte auf einen Idealzustand raufgetan. Und nach dem Motto: 100 % müssen wir schaffen. Und da ist natürlich klar, dass wir viel, viel schneller in ein Stressempfinden kommen, dass es eine Fehlermeldung gibt, dass wir finden: Das kann ja nicht sein – und empört reagieren –, als wenn man sagen würde: Ja gut, also mit 70 % bin ich schon zufrieden. Und diese Aspekte finde ich schon wichtig, dass wir dort hinschauen. Weil sonst laufen wir Gefahr, dass wir nur die äussere Situation anschauen und sagen, man sollte doch. Oder noch besser, die anderen sollten doch. Das hilft uns nicht. Es kann auch sein, es kann wahr sein, aber es hilft uns nicht. 00:06:28 Lukas Ja, wir haben ... ja, insgesamt die Herausforderung als Gesellschaft, eben gewisse Elemente zu bewältigen. Und du sagst, ganz wichtig ist die Analyse zwischen dem, was wir empfinden, und dem, was wirklich das Problem ist. Es gibt halt auch Probleme, die nicht so bewältigbar erscheinen. 00:06:48 Esther Es gibt auch solche, die nicht bewältigbar sind. Das Mindset im Sinne von: Wenn ich nur das Richtige mache, dann kann ich alles bewältigen. Das stimmt nicht. Ich kann nie 100 % bewältigen, aber auch nicht null. Und den Rest, den ich nicht bewältigen kann, mit dem muss ich auch etwas machen. Das ist auch wahr. Und dort ist die Akzeptanz ein relativ wichtiger Begriff. Wie komme ich damit klar? Wie bewerte ich das? Strecke ich die Waffen? Lasse ich mich fallen? Sage ich: Dann hat alles keinen Sinn mehr? Oder schaffe ich es, in dem Bereich, in dem ich etwas machen kann, das herauszuholen, was ich kann? Das sind alles Fragen, die wir uns stellen müssen. Ganz losgelöst davon, dass wir uns, glaub, alle einig sind, dass unser Lebensstil, unsere Umgebungsfaktoren zu wünschen übrig lassen und wir einiges noch herausholen können. Aber allein das – wenn wir nur das sehen – lässt uns in eine Opferhaltung hineinfallen. 00:07:36 Lukas Ja, Ohnmacht haben wir auch vor allem bei den Jungen, die wir beobachten konnten. 00:07:41 Jenny Ja, ich finde es einfach ganz wichtig, das, was du sagst – das sieht man auch gut in den Zahlen. Beispielsweise jetzt in der CSS-Gesundheitsstudie: Immer mehr Leute geben an, dass sie sich permanent unter Druck fühlen, um leistungsfähig zu bleiben. Und gerade wenn man so Unterschiede anschaut zwischen verschiedenen Generationen, zwischen den Geschlechtern, etwas, das halt fest auffällt und auch oft in den Medien Thema ist, ist der Unterschied – oder der Fakt –, dass vor allem junge Frauen sehr oft angeben, dass es ihnen psychisch nicht so gut geht im Vergleich zu den anderen Gruppen. Mich würde es mega interessieren – aus deiner klinischen Erfahrung und auch sonst –, wie du das wahrgenommen hast. Ist das eine demografische Gruppe, die uns besonders Sorgen machen müsste, oder müssen wir das Ganze noch breiter denken? 00:08:27 Esther Ich denke, breit denken ist nie falsch. Ich finde es immer sehr gefährlich, wenn wir sagen, die Gruppe ganz speziell, die sind speziell. Es betrifft uns schlussendlich immer alle als ganze Gesellschaft. Ja