Matthias Zehnders Wochenkommentar

Matthias Zehnder

Matthias Zehnder gibt Ihnen hier jede Woche zu denken. Das Thema: Medien und die Digitalisierung. Das Angebot: Konstruktive Kritik.

  1. DEC 5

    Braucht es im Zeitalter der KI einen neuen Menschen?

    Technologie-Evangelisten und -Kritiker sind sich in einem Punkt einig: Wir erleben gerade den Anbruch eines neuen Zeitalters. Es ist das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz. Ganz egal, ob sich die blühendsten Prophezeiungen der KI-Firmen bewahrheiten oder die düstersten Prognosen der Kritiker eintreffen, ob die KI demnächst den Menschen an Intelligenz übertrifft oder bloss ein cleveres Statistik-Tool bleibt – wir leben in einer anderen Zeit als in den 2010er-Jahren. Die Frage ist, welche Konsequenzen das für uns Menschen hat. Viele fürchten sich davor, dass alle Arbeitsplätze an Computern gefährdet sind. Dass die KI von Werbung über Einkauf und Verarbeitung bis zur Abdankungspredigt so gut wie alle Arbeiten übernehmen wird. Die Folgerung: Neben der KI kann nur ein ganz neuer Menschenschlag überleben. Braucht es also im KI-Zeitalter einen neuen Menschen? Kommen wir nicht darum herum, unsere Vorstellungen von Bildung und Moral über Bord zu werfen und uns ganz neu zu denken? Spannend an dieser Frage ist, dass sie nicht neu ist. Die technologischen Sprünge der Moderne haben immer wieder dazu geführt, dass sich der Mensch als ungenügend, als «Mängelwesen» empfunden hat. Antworten für die Zukunft gibt es deshalb in der Vergangenheit. Matthias Zehnder ist Autor und Medienwissenschaftler in Basel. Er ist bekannt für inspirierende Texte, Vorträge und Seminare über Medien, die Digitalisierung und KI. Website: https://www.matthiaszehnder.ch/ Newsletter abonnieren: https://www.matthiaszehnder.ch/abo/ Unterstützen: https://www.matthiaszehnder.ch/unterstuetzen/ Biografie und Publikationen: https://www.matthiaszehnder.ch/about/

    16 min
  2. NOV 28

    KI × Bildung = Zukunft – deshalb braucht es Schule jetzt erst recht

    Ich halte gerade gefühlt jede zweite Woche ein KI-Seminar mit Schulleitungen, Lehrerinnen und Lehrern. Ich vermute, neben Medienschaffenden gibt es kaum einen anderen Bereich, der so stark von der KI betroffen ist, wie Schule und Studium. Alle Hausarbeiten, vom Hausaufsatz bis zur Masterarbeit, müssen neu gedacht werden. Schülerinnen und Schüler hinterfragen vehement, warum sie noch Französisch oder Italienisch lernen müssen, wo es doch DeepL und Google Translate gibt. Welchen Sinn es hat, sich durch den Lernstoff in Geschichte und Biologie, Geographie und Physik zu quälen, wo ChatGPT doch auf jede Frage eine Antwort weiss. Wozu man im Deutschunterricht noch Romane und Gedichte lesen soll, wo Gemini doch jedes Werk im Handumdrehen erklärt. Es ist das Taschenrechnerproblem aus meiner eigenen Schulzeit im Quadrat. Oder hoch drei. Denn Zweifel äussern nicht nur Schülerinnen und Schüler, sondern auch Lehrpersonen. Sie fragen mich zum Beispiel, wann man mit KI-Unterricht beginnen soll. Ob zum Beispiel schon Kindergartenkinder den Umgang mit KI lernen müssen. Meine Antwort überrascht sie meistens: Künftig wird es, gerade im Umgang mit KI, nicht weniger, sondern mehr klassische Bildung und Ausbildung brauchen. Begründen lässt sich das mit der Funktionsweise der KI, aber auch mit der Praxis im Berufsleben. Ich versuche hier, die ganze Begründung auf eine einzige Grafik zu konzentrieren. Eine Grafik, die klar macht, warum wir gerade wegen der KI künftig nicht weniger, sondern eher mehr klassische Bildung und Ausbildung brauchen. Matthias Zehnder ist Autor und Medienwissenschaftler in Basel. Er ist bekannt für inspirierende Texte, Vorträge und Seminare über Medien, die Digitalisierung und KI. Website: https://www.matthiaszehnder.ch/ Newsletter abonnieren: https://www.matthiaszehnder.ch/abo/ Unterstützen: https://www.matthiaszehnder.ch/unterstuetzen/ Biografie und Publikationen: https://www.matthiaszehnder.ch/about/

    17 min
  3. NOV 21

    Diener der KI – oder die KI als Diener

    Anfang Februar 2023, also vor bald drei Jahren, habe ich einen Kommentar über die Auswirkungen der KI auf das Internet veröffentlicht. Der Titel: «Warum die KI zum Tod des Internets führen wird». Über eine Viertelmillion Mal wurde der Kommentar bisher geschaut, gelesen und gehört – und tausendfach kommentiert. Der Tenor: Sie übertreiben. Was den Titel angeht, stimmt das sicher. Doch die Effekte, die ich im Kommentar vorhersage, sind mittlerweile eingetroffen: Von den 50 grössten englischsprachigen Nachrichtenwebsites haben im Jahresvergleich 44 zwischen 30 und 60 Prozent Traffic eingebüsst. Der Grund: Nach einer Suche im Internet klicken immer weniger Menschen auf einen der Links auf der Ergebnisseite. Sie begnügen sich stattdessen mit den KI-generierten Zusammenfassungen von Google oder fragen gleich ChatGPT danach. «Zero Click» heisst das Phänomen. Es führt dazu, dass Aufmerksamkeit als Businessmodell für Medien im Internet nicht mehr funktioniert. Dies auch deshalb, weil KI-generierte Inhalte vielen Unterhaltungssurfern heute völlig genügen. Es ist eine existenzielle Herausforderung für Medienhäuser und Verlage, aber auch für Werbung und Kommunikation, für Marken und Unternehmen. Ich glaube deshalb, dass sich die Welt der Medien auf zwei Pole aufteilt: eine Insel der Qualität – und ein Meer von KI-Slop. Medienschaffende haben die Wahl: Entweder werden sie zu Dienern der KI – oder sie schaffen es, die KI als Diener einzuspannen und einzigartige Inhalte zu kreieren. Spannend daran ist, dass diese Entwicklung nicht nur Medienangebote betrifft, sondern auch Marken, Unternehmen, ja: alle, die im digitalen Raum präsent sind. Sie alle haben die Wahl: Diener der KI – oder die KI als Diener? Matthias Zehnder ist Autor und Medienwissenschaftler in Basel. Er ist bekannt für inspirierende Texte, Vorträge und Seminare über Medien, die Digitalisierung und KI. Website: https://www.matthiaszehnder.ch/ Newsletter abonnieren: https://www.matthiaszehnder.ch/abo/ Unterstützen: https://www.matthiaszehnder.ch/unterstuetzen/ Biografie und Publikationen: https://www.matthiaszehnder.ch/about/

    19 min
  4. NOV 14

    Longevity: Die gefährliche Sehnsucht nach ewiger Jugend

    Ich habe manchmal den Eindruck: Wer alt wird, ist selber schuld. Das Wort der Stunde heisst: Longevity. Eigentlich heisst das auf Deutsch schlicht «Langlebigkeit». Aber Longevity meint mehr: Es geht um die Verlängerung der gesunden Lebensjahre. Auch dafür gibt es ein Fachwort: «Healthspan». Das ist die Lebenszeit, die wir frei von Krankheiten und bei guter Vitalität verbringen. Nichts gegen gesunde Ernährung und etwas Bewegung. Doch wenn ich mir die Longevity-Literatur so anschaue, blicken mich lauter schöne, junge, strahlende  Menschen an: glatte Haut, volle Lippen, gerader Rücken, glänzendes Haar. Viele Experten versprechen inzwischen nicht nur ein beschwerdefreies, sondern deutlich mehr: Sie versprechen ein altersfreies Alter. «Verjüngung ist möglich. Wissenschaftlich erforscht», verspricht eines der Bücher. Ein anderes spricht gar vom ewigen Leben. Was mir dabei auffällt: In den Büchern ist die Rede von Ruhepuls und Insulinspiegel, von Antioxidanzien und Mononukleotiden, von Hirnleistung und Herzgesundheit. Bloss wofür das Herz so lange schlagen soll, das sagt keins der Bücher. Mir ist deshalb ein ganz anderes Buch in den Sinn gekommen. Die bitterböse Geschichte eines jungen Mannes, der nicht älter werden will, weil er seine Jugendlichkeit für den herrlichsten Besitz hält. Der schöne Jüngling überlässt das Altern deshalb einem Porträt, das ein Maler von ihm angefertigt hat. Sie haben die Geschichte sicher erkannt: Es ist «The Picture of Dorian Gray», der einzige Roman des irischen Schriftstellers Oscar Wilde. Ich glaube, Dorian Gray kann uns einiges über Longevity lehren.  Matthias Zehnder ist Autor und Medienwissenschaftler in Basel. Er ist bekannt für inspirierende Texte, Vorträge und Seminare über Medien, die Digitalisierung und KI. Website: https://www.matthiaszehnder.ch/ Newsletter abonnieren: https://www.matthiaszehnder.ch/abo/ Unterstützen: https://www.matthiaszehnder.ch/unterstuetzen/ Biografie und Publikationen: https://www.matthiaszehnder.ch/about/

    20 min
  5. NOV 7

    Der narzisstische Sisyphos

    Kurz bevor die deutschen Truppen 1940 in Frankreich einmarschierten, beendete ein junger, algerisch-französischer Schriftsteller die Arbeit an seinem ersten Roman. Zwei Jahre später, am 19. Mai 1942, veröffentlichte Gallimard den Roman trotz deutscher Besatzung in Paris. Das Buch wurde als literarische Sensation gefeiert und avancierte zu einem der meistgedruckten französischen Romane des 20. Jahrhunderts. Das ist die Geschichte von «L’étranger», dem ersten Roman von Albert Camus. Er traf mit seiner Geschichte über den gleichgültigen Mörder Meursault den Nerv seiner Zeit. Seine Generation war tief desillusioniert durch die Weltkriege und den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg des Totalitarismus. Heute, 85 Jahre später, stehen wir wieder an einem ähnlichen Punkt. Wieder sind Ideale vom Sockel gestürzt, koloniale Konflikte flammen wieder auf, wieder scheint der Aufstieg des Totalitarismus nicht aufzuhalten. Albert Camus sah 1940 den Menschen in einer absurden Situation: Wir Menschen sehnen uns nach Sinn, die Welt aber ist sinnlos, ja sinnwidrig. Camus vergleicht den Menschen deshalb mit Sisyphos, der zur Strafe in der Unterwelt einen Felsbrocken einen Berg hinaufwälzen muss. Kurz vor dem Gipfel des Bergs entgleitet ihm der Brocken und rollt wieder ins Tal. Deshalb steht Sisyphos jeden Tag vor derselben sinnlosen Aufgabe. Es ist eine absurde Arbeit. Camus sagt nun aber, der Ausweg liege darin, dass Sisyphos diese Absurdität seines Tuns akzeptiere und seine Erfüllung im täglichen Kampf mit seinem Felsbrocken sehe. Er schreibt deshalb: «Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.» Und heute, 85 Jahre später? Wie müssen wir uns Sisyphos heute vorstellen? Matthias Zehnder ist Autor und Medienwissenschaftler in Basel. Er ist bekannt für inspirierende Texte, Vorträge und Seminare über Medien, die Digitalisierung und KI. Website: https://www.matthiaszehnder.ch/ Newsletter abonnieren: https://www.matthiaszehnder.ch/abo/ Unterstützen: https://www.matthiaszehnder.ch/unterstuetzen/ Biografie und Publikationen: https://www.matthiaszehnder.ch/about/

    16 min
  6. OCT 31

    Wer bin ich und wie werde ich besser darin?

    Zwischen Selbstwahl und Selbstoptimierung «Ich bin nicht Stiller.» Mit diesem Satz hat uns Max Frisch einen der stärksten Romananfänge beschert. Zugleich hat er eine Losung ausgegeben: Ich lasse mir von der Gesellschaft nicht vorschreiben, wer ich bin. Als der Roman 1954 erschien, stand Stiller für eine radikale Wende. Die Erfahrung der totalitären Gesellschaft in Nazideutschland und im faschistischen Italien und Spanien steckte den Menschen noch in den Gliedern. Es stellte sich die Frage: Wie kann ein Mensch in einer solchen Gesellschaft er selbst sein? Für Max Frisch und seine Zeitgenossen war klar: Die kollektiven Identitätsentwürfe hatten versagt. Nation, Klasse und Religion taugten nicht mehr als Kompass. In dieses Vakuum stösst Jean-Paul Sartre vor mit einem Satz wie ein Trompetenstoss: «L’homme n'est rien d'autre que ce qu'il se fait.» – «Der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht.» Sartre macht das Individuum zum Schöpfer seiner selbst. Er trägt die Verantwortung, sich selbst zu wählen. Genau das tut Stiller, stösst dabei aber auf den Widerstand der Gesellschaft um ihn herum, die ihr Bild von ihm nicht ändern will. Heute, siebzig Jahre nach Stiller, hat sich die Frage verschoben. Nicht mehr die Selbstwahl steht im Zentrum, sondern die Selbstoptimierung. Die Aufforderung lautet nicht mehr: «Werde, was du bist!», sondern: «Werde besser, in dem, was du tust!» Doch wie sollen wir uns optimieren, wenn wir nicht wissen, wer wir sind? Matthias Zehnder ist Autor und Medienwissenschaftler in Basel. Er ist bekannt für inspirierende Texte, Vorträge und Seminare über Medien, die Digitalisierung und KI. Website: https://www.matthiaszehnder.ch/ Newsletter abonnieren: https://www.matthiaszehnder.ch/abo/ Unterstützen: https://www.matthiaszehnder.ch/unterstuetzen/ Biografie und Publikationen: https://www.matthiaszehnder.ch/about/

    15 min

About

Matthias Zehnder gibt Ihnen hier jede Woche zu denken. Das Thema: Medien und die Digitalisierung. Das Angebot: Konstruktive Kritik.

You Might Also Like